MOMENTE DES ERLEBENS – Wolfgang Zurborn zu den Fotografien von Werner Mansholt

 

Werner Mansholt läßt uns mit seinen Fotografien teilhaben an einer Reise durch die ganze Welt. Australien, Jemen, Indonesien, USA, Italien, Frankreich, Portugal, Singapur und Deutschland sind Stationen auf seiner Tour d’Image. Er zeigt uns dabei aber keineswegs die klassischen Motive. Die üblichen Sehenswürdigkeiten und großartige Landschaftsbilder werden uns bewusst vorenthalten. Er blickt hinter die Postkartenansichten, die unsere Vorstellung dessen, was wir schön zu finden haben, sonst so eindeutig definieren. Die oft sehr fragmentarischen Perspektiven auf die Welt hinterlassen ein Rätsel. Der Betrachter weiß nicht sofort, in welchen Teil der Welt er mit den Fotografien entführt wird. Diese Irritation sensibilisiert ihn aber, genauer hinzuschauen und seine eigenen Vorstellungen zu hinterfragen, die er von den Ländern mit unterschiedlichen Kulturen hat. Werner Mansholt will uns mit seinen Fotografien nichts beweisen. Viel wichtiger ist es für ihn, dem Moment des Erlebens einen visuellen Ausdruck zu verleihen. Er will die Gegenwart der Orte, Menschen und Objekte spüren. Die Reise ist für ihn ein Wahrnehmungszustand, offen für die kleinen Sensationen des Alltags. Damit setzt sich seine Fotografie ab von einem touristischen Konsumieren der Welt. Günther Anders hat 1956 in seinem Aufsatz über die Ikonomanie (Bildersucht) geschrieben, dass für die Touristen, die nach Venedig reisen, die Bilder, die sie dort vom Markusplatz machen, wichtiger seien, als die Zeit, die sie dort verbringen. Begeisterung käme erst auf, wenn die Fotografien zu Hause auf dem Sofa in einer Diaschau gezeigt werden. Das Reproduzieren klischeehafter Motive beweise erst, dass man wirklich dort war.

„Ich war hier“ nennt Werner Mansholt das Tableau mit vier Motiven aus dem Jemen, aus Singapur und Köln. Schon in dieser ersten Bildzusammenstellung des Kalenders wird die fotografische Haltung des Bildermachers deutlich. Nichts in den Fotografien deutet auf einen konkreten Ort hin und schon gar nicht auf einen, den wir im herkömmlichen Sinn sehenswürdig finden. Dasein bedeutet in diesem Fall präsent sein, wach für die sonst übersehenen Details aus unserem Lebensumfeld. Der Blick auf die Welt ist verstellt mit Pflanzen und Mauern und konzentriert sich auf die vergleichende Wahrnehmung von Oberflächen und Materialien, von Organischem mit von Menschen Geschaffenem. Natur und Kultur prallen hier aufeinander und in dem Konstrukt der Bilder wird sofort klar, dass die Fotografie hier nicht einer falschen Natürlichkeit frönt, sondern sich des subjektiven Entwurfs der Bildrealität bewusst ist.

Dem Fotografen ist klar, dass er keine eindeutige Realität in seinen Bildern transportieren kann. Immer wird es Ebenen der Wirklichkeit geben, die verschlossen bleiben. So stecken hinter jedem der „Liebesschlösser“ auf der Deutzer Brücke in Köln ganz persönliche Geschichten von Paaren, die auf diese Weise ihrer Sehnsucht nach ewiger Bindung Ausdruck geben. Wir können diese nur imaginieren aber nicht sehen. Die Schlüssel schwimmen im Rhein.

Die Abfolge der Bilder im Kalender kann als eine Montage von vielfältigen Realitätsebenen gesehen werden. Jedes Bild schafft einen anderen Schwerpunkt. Landschaft, Urbanität, Architektur, Vegetation, Mobilität und der Mensch zwischen Intimität und Distanz werden im ständigen Wechsel durch den sehr präzisen Einsatz von Licht, Farbe und Komposition zu einem dichten Bildgefüge komprimiert. Jeder Monat bringt eine Überraschung. Jedes neue Motiv lässt den Betrachter in eine andere Welt eintauchen und das nicht nur, weil die Bilder in verschiedenen Kontinenten aufgenommen wurden. Die Vielfalt entsteht im Kopf des Fotografen und des Betrachters, in seiner subjektiven Interpretation des Gesehenen. Kein vorgegebenes Schema schafft den Rahmen für das Zusammenwirken der Bilder.

Werner Mansholt nimmt sich die Freiheit, das Reisen selbst zum Thema seiner Bildstrecke zu machen. Der Wechsel der Eindrücke und Empfindungen in einer ständig sich ändernden Umgebung ist in den Bildern zu spüren.

In einem flüchtigen Moment auf der Frankfurter Zeil ist ein Bild von einer Mutter mit ihrem Kind entstanden, das ein starkes Gefühl von Nähe und Geborgenheit ausstrahlt. In der Rückenansicht der Personen scheinen die beiden Körper zu einem zu verschmelzen. Gesichter sind keine zu erkennen, aber für den Ausdruck der Emotionalität bedarf es keiner Mimik. Alleine die Sprache der Körper und der Kleidung erzählt die Geschichte.

Ein ganz anderes Zusammenwirken von Körpern im Raum zeigt die darauf folgende Fotografie von leuchtend farbigen Autos in New York City. Das harte Sonnenlicht lässt kräftige Schatten auf die Karosserien fallen und im engen Anschnitt der Aufnahme wird ein intensives Spiel von Farben, Oberflächen und Formen aktiviert. Herausgenommen aus der rein funktionalen Darstellung der Objekte, können diese ein Eigenleben entwickeln. Ihre Signalwirkung auf den öffentlichen Raum steht im Vordergrund. Urbanität ist in diesem Bild mit minimalen Mitteln angedeutet, durch einen schmalen Streifen am oberen Bildrand mit roten und gelben Markisen von Geschäften und durch den Schatten von Hinweisschildern auf der Kühlerhaube. Dieser Kontext ist sehr bedeutend, da erst dadurch das spannende Wechselspiel zwischen Darstellung und Wirkung geschaffen wird. Die formal-ästhetische Umsetzung des Wahrgenommenen löst sich nicht vom Gegenstand, sondern reflektiert ihn.

Menschen werden in den Bildern von Werner Mansholt meist in der Rückenansicht abgebildet. Mit ihnen schauen wir auf eine Szenerie, wie bei dem Rasenbowling in Whitsunday, Australien, oder haben einen weiten Blick auf eine australische Landschaft oder von einem Badeschiff in Berlin. Die Rolle des Betrachters wird in diesen Fotografien thematisiert. Die Interaktion zwischen Mensch und Ort schafft erst die Spannung der Bilder. Die idealisierte Darstellung der Landschaft allein würde in diesem Zusammenhang gar keinen Sinn machen. Es geht nicht um zeitlose Schönheit, sondern um das intensive Erleben eines Augenblicks, um die „Vibration des Lebendigen“, wie es der Schweizer Fotograf René Burri formuliert hat. Diese Momente werden in unterschiedlicher Weise fixiert. Bei dem Rasenbowling bilden die weiß gekleideten Figuren vor grünem Grund eine wahre Choreografie, die in humorvoller Weise eine ganze Geschichte über diesen Sport erzählt. Das Bildpaar mit den behüteten Frauen im Vordergrund arbeitet dagegen mit der Idee  des Seriellen, mit der Wiederholung derselben Perspektive, die es dann ermöglicht, die Unterschiede der Ausblicke und Aufnahmesituationen umso genauer zu vergleichen.

Die Bilder von Werner Mansholt leben auch von dem Gespür für die besondere Wirkung des Lichts bei der Darstellung von Räumen. Die harten Schatten bei der Architekturfotografie aus Pomarao, Portugal, lassen im Bild ein ganz neues Raumempfinden entstehen. Die abgebildeten Häuser sind keine toten Objekte. Das flirrende Sonnenlicht macht sie zu Orten des Erlebens. Die Fantasie des Betrachters wird angeregt, da das Bild keine eindeutige Interpretation liefert, sondern sich als eine subjektive Konstruktion von Wirklichkeit zu verstehen gibt. Die Häuser in Burano, Venedig, scheinen selbst zu Leuchtobjekten zu werden, so sehr strahlen sie im tiefstehenden Licht. Bei dem Dezemberbild aus Berlin schafft das Licht eine Verwirrung unserer Empfindung von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Die laubgrüne Häuserfassade bildet einen skurrilen Hintergrund vor einer Lichtskulptur, von der man aber nicht weiß, ob sie ein Baum oder aus Plastik ist. Die subtile Wahrnehmung von Lichtsituationen kann somit ganz unterschiedliche Funktionen in Bezug auf die Bildkonzeption haben, von der Konstruktion des Bildraums über eine Irritation des Blicks bis hin zu einer stimmungsvollen Darstellung eines Ortes, wie bei dem Cafe „Van Gogh“ in Arles.

Eine Auflösung des konkreten Ortes im Bild findet bei der Fotografie in Yogyakarta, Indonesien, statt. Die Bewegung ist bei dieser Aufnahme so geschickt eingefangen, dass die Personen und ihre Rikscha scharf abgebildet sind, während der Hintergrund zu verwischten Linien und Flächen abstrahiert wird und im Rhythmus von hell und dunkel eine ausdrucksstarke Visualisierung von Bewegung darstellt. Hier ist zu spüren, dass der Fotograf seine Inspirationen auch im Feld der Malerei gesucht hat, wobei ihn besonders die Arbeiten von Gerhard Richter beeindruckt haben.

Wenn man den ganzen Bilderreigen durch das Jahr überblickt, scheint eine Fotografie etwas aus dem Rahmen zu fallen. Wie fügt sich der Hund im Cafe Levante in Hamburg in die Folge von Eindrücken aus aller Welt ein? Der einzige Innenraum, die einzige Aufsicht und das einzige Mal mit Blitzlicht fotografiert und trotzdem ist dem Autor das Bild so wichtig, dass es dabei sein muss. Auch hier wird eine Haltung sichtbar, die man verstehen lernt, wenn man einen Blick auf einige der großen fotografischen Vorbilder wirft. Bei vielen Fotografen im Feld der Street Photography taucht das Motiv des streunenden Hundes auf, wie z.B. bei Josef Koudelka und Bruce Gilden, als Ausdruck des Animalischen und des vom Instinkt Getriebenen.

Die Kunst dieses Genres in der Fotografie besteht gerade darin, Instinkt und Intellekt nicht gegeneinander auszuspielen. Der Antrieb für Werner Mansholt, fotografische Bilder seiner Umwelt zu kreieren, besteht darin, eine ungezähmte Lebendigkeit einzufangen. Dies funktioniert nur, weil er seinem Instinkt beim Akt der Aufnahme traut und alle Kenntnisse über die Wirkung von Bildern nutzt für die Zusammenstellung seiner  Fotografien, wie in diesem Kalender.

Wolfgang Zurborn, Präsidiumsmitglied der Deutschen Fotografischen Akademie, Köln, 2011

(Quelle: MERCK-Künstlerkalender „Darmstädter Kalenderblätter 2012“)

Liebesschlösser, Köln, 2010